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© Hanna von Versen

Die Kleinen, die Großes bewirken: Insektennahrungsnetze in Waldökosystemen unter dem Einfluss von Schalenwild

Wenn zu viele hungrige Mäuler gestopft werden wollen

In Wäldern interagieren eine Vielzahl von Pflanzen- und Tierarten mit unterschiedlichen Funktionen miteinander. In diesen komplexen Ökosystemen spielt Schalenwild, wie Rehwild, Rotwild oder Damwild, als Teil der größten pflanzenfressenden Organismen europäischer Wälder eine zentrale Rolle [1]. Habitatunangepasste Schalenwildbestände können einen bedeutenden Einfluss auf die Vegetation von Waldökosystemen haben [1, 2]. Infolge von Samenäsung oder Verbiss kann es beispielsweise zum Ausbleiben oder zu Minderungen im Verjüngungswuchs sowie zur Entmischung von Pflanzengesellschaften kommen. Potenzielle Folgen sind Struktur- und Habitatveränderungen sowie Veränderungen der Diversität und Abundanz von Pflanzenarten [3]. Veränderungen in der Artenzusammensetzung sind nicht nur auf Vegetationsebene zu finden, sondern setzen sich als Kaskadeneffekte im Nahrungsnetz fort. Beispielsweise stehen wichtige Nahrungspflanzen von Insekten infolge des Verbisses unter hohem Fraßdruck. Folglich kann Schalenwild indirekt zu Veränderungen der Lebensräume von Insekten und damit auch deren Nahrungsnetzen beitragen [4, 5].  


Pflanze-Pflanzenfresser-Parasitoid-Beziehungen

Am Beispiel des Kiefernspinners (Dendrolimus pini; Abb. 1 und 2), einem Schmetterling der Kiefernfraßgesellschaft, soll ein solches Nahrungsnetz präsentiert werden (Abb. 3). Wenn es zu Verschiebungen in einem solchen Nahrungsnetz kommt, sind sowohl pflanzenfressende, als auch räuberische oder parasitoide Insekten betroffen [6]. Allerdings reagieren Arten, die höher im Nahrungsnetz angesiedelt sind (z. B. Räuber und Parasitoide) aufgrund ihrer meist stärkeren Spezialisierung auf bestimmte Ressourcen häufig sensibler auf Lebensraumveränderungen als Arten, die auf einer niedrigeren Nahrungsnetzebene stehen (z. B. Pflanzenfresser) [7]. Von besonderer Bedeutung ist dies u. a. während Massenvermehrungen pflanzenfressender Insekten. Wenn Nahrungsquellen oder komplexe Habitate fehlen, kann die natürliche Regulation pflanzenfressender Insekten, wie dem Kiefernspinner, durch potentielle räuberische oder parasitoide Nutzinsekten, wie Schlupfwespen oder Raupenfliegen (Abb. 4 und 5), gestört werden [8]. Daneben sind solche nützlichen Insekten auf Nebenwirte und diese wiederum auf das Vorhandensein bestimmter Nahrungspflanzen und Lebensräume angewiesen.  

Den Insekten auf der Spur

Da solche Veränderungen die Ökosystemstabilität modifizieren können, beschäftigt sich die Professur für Waldschutz an der TU Dresden in ihrem Teilprojekt unter anderem mit den Folgen von Wildeinflüssen für Insektengemeinschaften in Waldökosystemen. Dabei werden trophische Interaktionen zwischen phytophagen und parasitoiden sowie räuberischen Insekten fokussiert. Neben der Analyse der Insektenhabitate verschiedener Waldökosysteme sollen Ansätze zur natürlichen Regulation potenzieller Schadinsekten und deren Fraßrisiken durch die Nutzung der Pflanzen- und Insektendiversität in Wäldern abgeleitet werden.

In ausgewählten Waldbeständen des WiWaldI-Projekts mit unterschiedlichen Merkmalen hinsichtlich der Vegetation, des Klimas sowie der Bewirtschaftungsform werden Insektenvorkommen und ‑Nahrungsnetze identifiziert. Hierzu werden bereits etablierte aber auch neue Kontrollzaunpaare zur Untersuchung des Wildeinflusses auf Insektennahrungsnetze verwendet. Um einen Überblick über das Insektenspektrum zu erhalten, werden verschiedene Erfassungsmethoden angewendet. Für den standortspezifischen Zufallsfang flugfähiger Insekten, zu denen eine Vielzahl waldschutzrelevanter Insekten (z. B. Schlupfwespen, Raupenfliegen oder Schwebfliegen) zählt, werden Malaise-Fallen und Kreuzfensterfallen eingesetzt (Abb. 6). Um Aussagen über strauch- und baumartenspezifische Insektengemeinschaften treffen zu können und Wirtspflanzen zu identifizieren, werden Klopfungen an äsungs- und insektenrelevanten Verjüngungspflanzen (Gehölze) durchgeführt.


nachfolgend von links nach rechts: Abbildung 3, 4, 5 & 6

Von der Theorie in die Praxis

Mittels der gewonnenen Daten zu den Insekten sollen zum einen Nahrungsnetze erstellt werden (vgl. Abb. 3). Zum anderen sollen diese Untersuchungen mit den Daten der anderen im Projekt beteiligten Forschungsgruppen der Universität Göttingen und TU München verknüpft werden. So kann beispielsweise der Einfluss der Pflanzendiversität, der Habitatstruktur sowie der klimatischen und geografischen Bedingungen auf das Vorkommen verschiedener Insekten analysiert werden. Die sich hieraus ergebenden Erkenntnisse können einen Beitrag zum Verständnis der Interaktionen zwischen Wildpopulationen und Ökosystemfunktionen in Wäldern leisten. Zudem können daraus Habitatindikatoren, d. h. typische Lebensraumbedingungen, an die potentiell nützliche Insekten gebunden sind, identifiziert werden. Damit können die Ergebnisse perspektivisch für die Entwicklung anpassungs- und reaktionsfähiger Wälder genutzt werden, die insbesondere vor dem Hintergrund der Folgen des Klimawandels von großer Bedeutung sind [9].

Text: Linda Kunz, Claudia Jordan-Fragstein, Michael Müller | Teilprojekt 3: Wildeinflussmonitoring und Insektennahrungsnetze (TU Dresden)

Literatur:

[1] Schulze, E. D.; Bouriaud, O.; Wäldchen, J.; Eisenhauer, N.; Walentowski, H.; Seele, C.; Heinze, E.; Pruschitzki, U.; Dănilă, G.; Marin, G.; Hessenmöller, D.; Bouriaud, L.; Teodosiu, M. (2014): Ungulate browsing causes species loss in deciduous forests independent of community dynamics and silvicultural management in Central and Southeastern Europe. Annals of Forest Research 57 (2), 267-288.

[2] Côté, S. D.; Beguin, J.; de Bellefeuille, S.; Champagne, E.; Thiffault, N.; Tremblay, J.-P. (2014): Structuring Effects of Deer in Boreal Forest Ecosystems. Advances in Ecology, 1-10.

[3] Vor, T.; Ammer, C. (2021): Das BioWild-Projekt. Vegetationsentwicklung unter Wildeinfluss. Ökojagd 4, 19-24.

[4] Allombert, S.; Stockton, S.; Martin, J.-L. (2005): A Natural Experiment on the Impact of Overabundant Deer on Forest Invertebrates. Conservation Biology 19 (6), 1917-1929.

[5] Stewart, A. J. A. (2001): The impact of deer on lowland woodland invertebrates: a review of the evidence and priorities for future research. Forestry 74 (3), 259-270.

[6] Price, P. W. (2002): Resource-driven terrestrial interaction webs. Ecological Research 17 (2), 241-247.

[7] Cronin, J. T.; Reeve, J. D. (2005): Host-parasitoid spatial ecology: a plea for a landscape-level synthesis. Proceedings. Biological sciences 272 (1578), 2225-2235.

[8] Tylianakis, J. M.; Binzer, A. (2014): Effects of global environmental changes on parasitoid–host food webs and biological control. Biological Control 75, 77-86.

[9] Bale, J. S.; Masters, G. J.; Hodkinson, I. D.; Awmack, C.; Bezemer, T. M.; Brown, V. K.; Butterfield, J.; Buse, A.; Coulson, J. C.; Farrar, J.; Good, J. E. G.; Harrington, R.; Hartley, S.; Jones, T. H.; Lindroth, R. L.; Press, M. C.; Symrnioudis, I.; Watt, A. D.; Whittaker, J. B. (2002): Herbivory in global climate change research: direct effects of rising temperature on insect herbivores. Global Change Biology 8 (1), 1-16.

[10] CABI Compendium (2022a): Therion circumflexum.

[11] CABI Compendium (2022b): Telenomus laevisculus.

[12] CABI Compendium (2022c): Exorista larvarum.

[13] Dueñas-López, M. A. (2022): Dendrolimus pini (pine tree lappet). CABI Compendium.

[14] Möller, K. und Engelmann, A. (2008): Die aktuelle Massenvermehrung des Kiefernspinners, Dendrolimus pini (Lep., Lasiocampidae) in Brandenburg. Mitt. Dtsch. Ges. Allg. Angew. Ent. (1)6: 243-246.

[15] Schulz, U., Dreger, F., Majunke, C. (2004): Arthropoden in Kiefernforsten und jungen Umbauflächen: Bedeutung für Biodiversität, Naturschutz und Forstschutz, formuliert in acht Thesen. Beitr. Forstwirtsch. u. Landsch.ökol. (38): 87-94.